* 28. Oktober 1947
von Peter Niklas Wilson
Essay
Jo Kondos kompositorische Selbstfindung verbindet sich mit dem Begriff „Sen no Ongaku“, dem Gedanken einer „Musik der Linie“. Nach ersten Stücken, die eklektisch auf aktuelle Trends der europäischen und US-amerikanischen Avantgarde reagierten, fand Kondo 1973 seine persönliche Variante einer ästhetischen tabula rasa, die er selbst mit Giacinto Scelsis radikaler Abkehr von musikalischer Komplexität vergleicht, aber auch soziologisch begründet: „Vor 1973 war mein Stil sehr vielfältig. Ich suchte noch nach meinem Stil. Ich imitierte Boulez, Xenakis, Cage oder Robert Ashley. Aber dann ging es mir wie Giacinto Scelsi. In den späten 50er-Jahren beschloß er, mit einer Musik aus einem einzigen Ton neu anzufangen, während um ihn herum überall komplexe, serielle Musik geschrieben wurde. Auch ich versuchte, mit einem der grundlegendsten Elemente der Musik anzufangen: der einstimmigen melodischen Linie. Diese Art von Haltung war von der Radikalität der Zeit beeinflußt. Es war die Zeit der Studentenrevolte; man suchte immer nach den radikalsten Dingen, und der Begriff ‚radikal‘ impliziert ja die Suche nach den Grundlagen. Anstatt wie Scelsi einen einzigen Ton zu nehmen, um daraus Musik zu machen, nahm ich die einzelne Linie. Aber damals wußte ich nichts von Scelsi. Seine Musik lernte ...